Es ist nichts Ungewöhnliches, wenn Unternehmen ihren Kunden ein Buch schenken. Handelt es sich dabei um eines mit dem Titel "Erfolgsleere. Philosophie für die Arbeitswelt", in dem unser tägliches wirtschaftliches Tun in unverblümter Radikalität attackiert wird, dann beweist der Schenker Mut, Souveränität - und Humor. Die change factory aus München hat genau das getan. Im Buzznews-Interview erklären die beiden Geschäftsführer Ulrich Gerndt und Dr. Jürgen Schüppel die Hintergründe.
Interview mit der change factory über Michael Andricks "Erfolgsleere" als Kundengeschenk
Das Buch "Erfolgsleere. Philosophie für die Arbeitswelt" von Michael Andrick enthält eine harte, in ihrer Stoßrichtung ungewöhnliche Kritik der Industriegesellschaft und ihrer Institutionen. Sie haben 150 Exemplare des Buchs gekauft und verteilen diese nun mit Widmung der Geschäftsführer an Ihre Kunden. Wie kam es zu dieser ungewöhnlichen Entscheidung?
Ulrich Gerndt: Wir bedenken ausgewählte Kunden seit Jahren mit einer kleinen Aufmerksamkeit als Dank für die gute Zusammenarbeit. Das machen wir bewusst nicht zu Weihnachten, weil die Aktion sonst in den „Grußkarten-Bergen“ untergehen würde. Warum nun gerade das Buch „Erfolgsleere“ als Kundengeschenk? Wir finden, dass Dr. Andrick Fragen anreißt, die letztlich für alle Organisationen relevant sind. Dass er dies in einer offenen, unverblümten, unaufgeregten Art tut, entspricht auch unserem Selbstbild als change factory.
Jürgen Schüppel: Wir erleben täglich in unseren Beratungs- und Trainingsprojekten und auch in unseren individuellen Coachings, unter welcher Spannung Organisationen und die Menschen in ihnen stehen. Hier ist Reflexion hilfreich. Wie Uli schon gesagt hat, versuchen wir, uns mit unserer kleinen Aufmerksamkeit für die Zusammenarbeit zu bedanken, wollen aber gleichzeitig auch einen kleinen Reflexionsimpuls verschenken. Und nachdem wir beide das Buch gelesen und uns das sehr nachdenklich gemacht hatte, war uns klar, dass das dieses Mal ein etwas größerer Reflexionsimpuls für unsere Kunden sein könnte.
Was schätzen Sie an Andricks Denken? Gibt es da so etwas wie eine „Lieblingsthese“, die Sie besonders überrascht hat?
Ulrich Gerndt: Ich empfinde Andricks Denken als radikal, also an die Wurzeln gehend, und gleichzeitig ohne „Aktivistenattitüde“. Er nennt Mechanismen beim Namen, ohne zu predigen. Ich habe das Buch mit Genuss „verschlungen“, somit könnte ich viele Passus nennen, die mir gut gefallen haben. Eine meiner „Lieblingsstellen“ ist auf S.54: „Wo die Ressourcen es zulassen und die Investition betrieblich lohnend erscheint, wird dem Delinquenten gern ein Coach zugeteilt – also ein Gesprächspartner, mit dem man klärt, welche Art und welche Abfolge von Kompromissen mit den Konformisten die eigene Integrität gerade noch zulässt.“
Jürgen Schüppel: Andricks Denken legt den Finger schonungslos in die Wunde unserer Organisationen und leitet das ausführlich, aber ohne erhobenen Zeigefinger her. Besonders beeindruckt hat mich die Argumentation, dass wir uns in der Moderne als prinzipiell freie Menschen einem Organisationszweck unterordnen und dafür ein gut funktionierendes Belohnungssystem etabliert ist, das unseren Ehrgeiz befeuert. Den Ausdruck „Ehrgeiz ist die Frömmigkeit der modernen Arbeitswelt“ habe ich mir, als einem ehrgeizigen Menschen, hinter die Ohren geschrieben.
Welche seiner Überlegungen sehen Sie kritisch?
Ulrich Gerndt: Da musste ich länger nachdenken, denn eigentlich kann ich seinen Thesen gut folgen. Manchmal entsteht der - vermutlich nicht zutreffende - Eindruck, Andrick unterstelle allen Organisationen beziehungsweise dem Top-Management dahinter böse Absicht, wenn sie die „Prostitution aller Gesten und Praktiken der Moralität und Vernunft“ einfordern. Wenn das so gemeint ist, entspricht es nicht der Mehrheit meiner eigenen Erfahrungen mit Top-Managern.
Was erhoffen Sie sich von der Verteilung des Buchs? Wozu möchten Sie Ihre Kunden damit anregen?
Ulrich Gerndt: Wir erhoffen uns zunächst mal ein Lächeln auf den Lippen der Empfänger, wenn sie sehen, change factory hat an sie gedacht. Darüber hinaus würden wir uns freuen, wenn wir mit den Kunden zu Andricks Thesen ins Gespräch kommen, gemeinsam überlegen, was sie für die eigene Organisation bedeuten.
Jürgen Schüppel: Ich hoffe auf ähnliche Reaktionen, wie ich sie bei mir selbst festgestellt habe: Lesen, innehalten und das eigene Verhalten für sich, aber auch Muster in der eigenen Organisation kritisch reflektieren.
Haben Sie keine Sorge, einige Ihrer Kunden zu irritieren? Andricks Thesen sind auf keinen Fall „mainstream“: z.B. bezeichnet er Ehrgeiz als das Gegenteil von moralischer Eigenständigkeit. Und er scheint die verbreitete Praxis des Coachings, die Sie ja auch anbieten, als eine Art Konformismusnachhilfe zu betrachten.
Ulrich Gerndt: Als Organisationsberater im weitesten Sinne ist es eine unserer Aufgaben, zu irritieren, Kunden einzuladen, aus gewohnten Denkmustern auszubrechen, Dinge auch mal grundsätzlich in Frage zu stellen. Dazu eignet sich Andricks Buch in hervorragender Weise.
Jürgen Schüppel: Nein überhaupt nicht. In unserer Rolle irritieren wir auch immer wieder, indem wir Verhaltensmuster spiegeln, die zum Teil gar nicht mehr selbst wahrgenommen oder mit (Schein-)Argumenten wegrationalisiert werden. Gerade Andricks Aussagen zum Coaching haben mich selbst in meiner Rolle nochmals hart konfrontiert: Ist die Coachinganfrage nicht auch der Wunsch, einen Mitarbeiter in seinem Verhaltensrepertoire anpassbarer an die Bedingungen der Organisation zu machen?
Andrick diagnostiziert einen allgegenwärtigen und letztlich unproduktiven Anpassungsdruck in der Industriegesellschaft, also auch in den Unternehmen, für die Sie mit der change factory arbeiten. Sofern Sie seiner Analyse zustimmen – wie schaffen Sie es, sich diesen Mustern bei Ihren Dienstleistungen zu entziehen?
Ulrich Gerndt: Ob uns das immer gelingt, sei dahin gestellt. Unser Ansatz z. B. in Coachings ist, dem Coachee Klarheit über seine eigenen Beweggründe und die seiner „Stakeholder“ zu verschaffen, und auf dieser Basis bewusste, Andrick würde vermutlich sagen „vernünftige“ Entscheidungen für sich zu treffen.
Jürgen Schüppel: Wir sind erst einmal sicher selbst Teil des Systems und reproduzieren damit bestimmt auch diese oder ähnliche Muster. Umso wichtiger finde ich, dass wir das reflektieren und kritisch hinterfragen. Seit wir das Buch gelesen haben, fragen wir uns mehr denn je: Wollen wir den Status quo so annehmen? Was ist unsere Position, wie wollen wir es eigentlich haben, welchen Einspruch machen wir geltend und beharren auch darauf? Wovon sind wir überzeugt und wofür setzen wir uns ein?
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