Rezension "Erfolgsleere" von Michael Andrick

In seinem Buch "Erfolgsleere. Philosophie für die Arbeitswelt" unternimmt Philosoph und Führungskraft Michael Andrick eine schonungslose Analyse der Spannung zwischen dem Individuum und seiner Arbeit in modernen Organisationen. Dabei entsteht ein leidenschaftlicher Rettungsversuch des  selbstständigen Nachdenkens und des eigenen Lebens.

Warum machen wir alle mit?

Seit seiner Jugend lässt Michael Andrick eine Frage nicht los, die er zum Ausgangspunkt seiner zunächst ins Tagebuch geflossenen, später dann zu diesem Buch ausgebauten Gedanken macht. In meinen Worten reformuliert: Warum bringt die Gesamtheit der Menschen in den Industriestaaten bei sich zu Hause wie im Rest der Welt Ergebnisse hervor, die jeder einzelne ablehnt und bedauert, zumindest, wenn er nicht völlig verroht und dekadent ist?

 

Um feldübergreifende Beispiele des durch unsere Zivilisation hervorgebrachten Elends ist Andrick nicht verlegen, er benennt sie unumwunden gleich auf den ersten Seiten, und es sind die bekannten. Die Aufzählung, die ich hier nicht wiedergebe, ist ein Donnern und Blitzen aus dem Leierkasten, oft hat man sie gehört, und genau das ist für Andrick das Interessante: Wir kennen das alles, wir wissen es, trotzdem operieren wir achselzuckend weiter.

 

Die kalte, düstere Basis seiner Überlegungen ist formuliert, doch schon hier reizt es selbst prononcierte Gesellschaftskritiker zur Ergänzung: Natürlich sind die Schrecken groß, größer, als sie sein müssten, und es gibt strukturelle Anreize für Fehlverhalten mit brutalen Folgen. Doch warum sollte man unterschlagen, dass eben genau jenes kapitalistische Monstrum in menschheitsgeschichtlich kurzer Zeit einen zuvor ungekannten und selbst in ausgreifendsten Phantasien ungeahnten Reichtum hervorgebracht hat und dies immer noch tut, Jahr für Jahr und gerade auch, wie viele Studien zeigen, in den armen Regionen? Durch die Anerkennung dieser Realität hätte Andricks Zustandsbeschreibung differenziertes statt katastrophisches Format erhalten, ohne die Wucht seiner Kritik einzubüßen und ohne die spannende Forschungsfrage zu relativieren:

 

Warum ist uns, bei aller Liebe zu den Segnungen der Marktwirtschaft (denn auf ihr und ihrer sozialen Einhegung beruht unser Fortschritt), unser täglich produziertes Elend egal, warum schämen wir uns nicht? Warum akzeptieren wir alles und werden bereitwillig zu konformistischen Erfüllungsgehilfen?

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Die Rolle der Philosophie

Historisch plausibilisieren will der Autor die Verhältnisse dabei nicht, sondern philosophisch analysieren: "Wir suchen das Prinzip unserer perversen Normalität, ihre treibenden Motive, Denk- und Verhaltensmuster - und deren Ursprung. Auf Grundlage welcher bekannten Kräfte und ihres Zusammenwirkens sind die dramatischen Missstände unserer Normalität zu erwarten? Inwiefern haben die unmenschlichen Aspekte der Industriegesellschaft ebenso System wie mancherorts die pünktliche Auszahlung ihrer Sozialleistungen? Wie sind wir in dieses System einbezogen, wie können wir uns vor seiner Gewissenlosigkeit bewahren, und wie können wir es verändern?" Die Erwähnung der Sozialleistungen zeigt: Blind gegenüber den Vorteilen ist Andrick nicht.

 

Sagte ich "philosophisch analysieren"? Philosophen tun manchmal so, als betrieben sie ihr Geschäft in vornehmer Distanz, man wird auf der Suche nach biografischen Spuren jedoch häufig fündig. Andrick nicht, er legt sie offen, für ihn ist die Sache ein persönliches Anliegen, seine "Klärungswut" resultiert aus seiner Doppelnatur: Studierter Philosoph und Historiker arbeitet als Führungskraft in einem deutschen Großunternehmen. In der Tat, das ist selten, noch seltener schreiben solche Leute Bücher und noch nie so eines. Für die Unerschrockenheit müsste man den Philosophen Michael Andrick nicht hervorheben. Die ist typisch für Intellektuelle. Dass aber ein Manager aus der mittelgehobenen Ebene eines Konzerns derlei verbreitet, verdient Respekt und Aufmerksamkeit.

 

Verraten Titel und Klappentext bereits sehr klar, was Andrick vom Streben nach Erfolg hält, stimmen die vorangestellten Zitate weiter auf Deftiges ein. Da fürchtet sich Harry Mulisch vor in ihrem Gehorsam maschinenähnlichen Menschen, darunter räsoniert NS-Kriegsverbrecher Adolf Eichmann über seine hackenzusammenschlagende Massen- und Gewohnheitstierhaftigkeit beim ethik-agnostischen Befolgen von Befehlen, um abschließend Nietzsche den Ausweg zeigen zu lassen: Selbstgesetzgebung, radikal. Kein Zweifel: Hier soll unserer Gegenwart die ungeprüfte Affirmation gründlich entzogen werden. Selbstverständlichkeiten gibt es nicht. Das ist ohnehin immer der Schlachtruf der Philosophie, zumindest ihrer interessanten Variante. So beginnt Andrick auch ganz grundsätzlich bei der Bedeutung dieser notorisch verhaltensauffälligen Disziplin.

 

Wer über Philosophie redet, muss spätestens seit dem Linguistic Turn in den 1960er Jahren über Sprache reden. Ludwig Wittgenstein und Martin Heidegger stehen bei Andricks Ausführungen Pate: Unsere Sprache ist das Haus unseres (Bewusst-)Seins, ihre Grenzen sind die unserer Welt. Errichtet haben das Haus, in dem wir mehr oder weniger behaglich wohnen, jedoch vorerst andere, womit sie im Hochziehen der Mauern auch unsere Beschränktheit bestimmten. Manchmal wird das Haus renoviert, manchmal abgerissen und neu gebaut. Das Haus, das ist der jeweilige Zeitgeist, der unser Selbst- und Weltverständnis prädisponiert.

 

Klar kann man in von anderen entworfene Fertighäuser einziehen. Gemütlich ist das. Allerdings sind wir dann für Andrick bloß Resultat unserer Lebensumstände, "menschgewordener Ausdruck unserer Zeit". Wir existieren - und hier gibt er einen ersten Wink seiner Beschreibungen, zu denen er uns verlocken möchte - dann aber noch nicht als "Personen". Person ist man erst, wenn man den Zeitgeist, die Gewohnheit hinterfragt und sich metaphorisch eine eigene Bude einrichtet. Philosophie ist hier die Notwehr des Ich gegen das Man. Nicht "Marionette der Vergangenheit" sein, auch nicht "Puppenspieler der Gegenwart", sondern zu sich selbst kommen, also gewissermaßen (um im Bilde zu bleiben) sein eigenes Kasperletheater gründen, dazu ruft Andrick auf.

 

Zu sich selbst zu kommen meint dabei nicht, den Weg zu etwas ahistorisch bereits Vorhandenem freizuräumen, sondern in kritischer, eben philosophischer Reflexion ein temporäres Selbst mithilfe einer eigenen Erzählung zu schaffen. Andrick deontologisiert Identität zugunsten einer fluiden, sozial vernetzten Narration, in der Wertvorstellungen ausgedrückt werden, mit denen der Mensch sein individuelles Leben vollzieht und sich konstituiert. Der Name dieses prinzipiell nicht-elitären Prozesses ist: Philosophie.

 

Philosophie und Kunst führen uns zunächst gedanklich über das Gewohnte hinaus. Daraus kann etwas Neues werden und in jedem Fall ein selbst gestaltetes Leben - für Andrick der einzige erkennbare Sinn des menschlichen Daseins. Jedoch: "Im Alltag der industrialisierten Welt aber wird die Frage, wofür eigentlich die besten Gründe sprechen, zugunsten der Frage vernachlässigt, wofür es bereits etablierte, akzeptierte, durch Macht gestützte Gründe gibt." Wer sich bei diesem Satz an die bundesdeutschen wirtschafts- und sozialpolitischen Diskussionen mindestens des angebrochenen 21. Jahrhunderts erinnert fühlt, liegt nicht falsch.

 

Philosophie treibt zu einem gelingenden Leben, das wegen seines nachdenklichen Eigensinns auf sichere Konformisten befremdlich und auf unsichere bedrohlich wirkt. Ob jedoch konform oder nicht: Unsicher sind wir eigentlich alle, seitdem wir metaphysische Programme beendet haben und der Einzelne in einer kontingenten Pluralität auf sich selbst zurückgeworfen ist. Orientierung auf eigene Faust. Frei nach Nietzsche: Wir haben erkannt, dass wir den Wert in die Dinge gelegt haben, und ihn panisch zurückgezogen. Bringen wir die Kraft auf, ihn wieder zu verleihen? Können wir, als frei flottierende, höherer Gewissheit beraubte, bald verwehende Stäubchen vom Staube, an selbstgemachte Werte glauben?

Vergiss dich und sei, wie wir es wollen: Konformitätsdruck

Zur berühmten metaphysischen Obdachlosigkeit, die auf den Imperativ zur Selbstgestaltung zuläuft, auf die "Moralität" im Vokabular von Andrick, tritt der von der sozialen Umwelt ausgeübte Konformitätsdruck, der jeder Gesellschaft, will sie fortbestehen, inhäriert. Was heißt Druck? Viele waren früher außengelenkt - z. B. durch Gott - und behalten es nach Gottes Tod einfach bei. An seine Stelle tritt die Gesellschaft.

 

Trotzdem bleibt da natürlich mindestens ein Rest, der nicht vereinnahmt ist, der sich widersetzt, und das bereitet Unbehagen. Der Konflikt zwischen Eigensinn und Anpassung ist bis heute nicht aufgelöst und lässt sich womöglich nicht beseitigen. Man pflegt in solchen Fällen, wie auch ich am Anfang dieses Textes, milde von einer "Spannung" zu sprechen, was die darunterliegenden Leiden der fundamental Eigensinnigen inadäquat wiedergibt.

 

Die Bedrohung bei Verweigerung des Konformismus ist existenziell: Entzug elementarer Ressourcen. Ein Leben ist nur dann wert, "unterhalten" zu werden, wenn man einen Job hat, man muss sich so seinen "Lebensunterhalt" "verdienen".

 

Die Kosten des Konformismus: Verlust des Person-Status, keine Selbst-Entwicklung, Einschluss in eine Teil-Welt unter völliger Aussperrung der restlichen Wirklichkeit mit sogar partieller feindlicher Gegenüberstellung. Man wird so weich, geschmeidig, fließend, dass man in jede Form gegossen werden kann, die zur Erreichung fremder Zwecke nützlich ist.

 

"Die moralische Person ist der Gegenspieler des Zeitgeistes", schreibt Andrick, eine Art Schläfer, der jederzeit aktiviert werden kann. Ihre Funktion ist das Begreifen, Verändern und Sabotieren des malmenden Räderwerks. Ohne sie, die zunächst immer Störenfriede sind, die inneren Einsiedler (nicht: Emigranten), gäbe es keine Chance auf Fortschritt, was immer man darunter versteht. Statt ihr Äußeres von außen lenken und sich damit von den eigenen Werten ablenken zu lassen, steuern sie ihr Inneres. Vita contemplativa als wichtiges Korrektiv zum einfachen, fraglosen Mitmachen, wofür sie vergeblich auf Anerkennung schielten, wenn sie das denn täten, was eben genau nicht der Fall ist.

 

Aus dieser Selbstmächtigkeit entsteht trotz unmittelbarer gesellschaftlicher Ohnmacht paradoxerweise eine Macht und nach Andrick auch ein Recht auf Veränderung der Strukturen. Es bleibt aber dabei: "Jede Gesellschaftsordnung steht prinzipiell in Gegnerschaft zur moralischen Person". Genau hierin unterscheidet sich Andricks Auffassung von derjenigen der populären Lifecoaches, die ihren Zuhörern mit ihren optimistischen Postulaten das Hirn vernebeln, wonach man selbst zu sein nicht nur nicht mit gesellschaftlichem Erfolg konfligiert, sondern sogar dessen Voraussetzung ist. Wobei sie dann oft nachschieben oder wegen zu großer Schroffheit implizieren: Hast du keinen Erfolg, dann war es wohl nicht dein echtes Selbst. Darauf muss man erst einmal kommen: Der gesellschaftliche Erfolg als Ausweis für Eigensinn. Subtiler und gleichzeitig einfacher kann man den "Konformismus der Beherrschten" nicht verkaufen. Erkenntnis kann wohltuend sein, auch wenn sie hart ist, und so ist es befreiend, von einem Philosophen aus dem Zentrum des Wirbelsturmes Korrigierendes zu hören.

 

Konformisten sind für Andrick nun jene Menschen am anderen Pol. Nicht schon das Konformgehen mit anderen bis zu einem gewissen Punkt macht den wahren Konformisten, sondern das planvolle Erheben der Konformität zum Prinzip des Denkens und Tuns: "Konformismus praktizieren heißt, sich den gegebenen Mächten und ihren Repräsentanten als Diener antragen, um die von ihnen zu erlangenden Vorteile einzuheimsen." Des Konformisten besondere Kunst ist das Erraten der Erwartungen der anderen, um sie "einfach" zu erfüllen. "Genau dies ist das in jeder Gesellschaft für uns vorgesehene Programm: Abschaffung des eigenen Nachdenkens zugunsten eines vorauseilenden, über fremde Erwartungen spekulierenden Gehorsams. Dies ist der Weg zur Verkümmerung unseres Selbst, zur Abschaffung unserer eigenen, wertenden Perspektive auf die Welt." Sätze wie Erdbeben unseres modernen Selbstverständnisses, mit größter Gelassenheit niedergeschrieben. Es gibt Rezensenten, die Andricks Philosophie schwer ertragen, weil sie einem erstaunlich infantilen Traum vom Idyll unserer ach so freien, zur individuellen Autonomie aufrufenden Zeit anhängen, in der jeder den Platz findet, der ihm Selbstverwirklichung ermöglicht sowie ihn glücklich und zufrieden leben lässt.

 

Auf der Ebene des Handelns nennt Andrick den Konformisten Funktionär. Der Funktionär ist leer – mit diesem nur in Norddeutschland nicht unreinen Reim lässt sich seine Natur beschreiben. Man kann in ihn alles füllen und ihn so zu allem bewegen, von Menschenrettung bis Menschenvernichtung, von Obdachlosenhelfer bis KZ-Aufseher. Wie der Wind der Gesellschaft auch gerade geht: Stets verhält er sich "professionell", also gehorsam und "pseudomoralisch". Dabei hilft die interne "Betriebspropaganda". Andrick nimmt sie grundsätzlich auseinander, spricht von "kitschigem Gerede", allgemein den "äußeren Formen einer allgemeinen Sittlichkeit" im Gegensatz zu echter Sittlichkeit:

 

"Erfolgreiches Tun ersetzt in den Institutionen moralisches Handeln, wird aber in den äußeren Formen wie moralische Bewährung behandelt. Man tut so, als sei der Betrieb eine moralische Anstalt. All dies ist Kitsch - es zielt hoch und trifft niedrig (…). Es stellt aber tatsächlich viele zufrieden, deren gesamte praktische Energie auf ihre Arbeit konzentriert ist."

 

Irgendwo zwischen Verbitterung, Sarkasmus und einem lutherischen "Hier stehe ich. Ich kann nicht anders" sind folgende Sätze wohl angesiedelt: "In unseren Institutionen arbeiten wir in einer Kultur des manipulativen Relativismus. Was immer der Mitarbeiter, also das "menschliche Betriebsmittel", zum Funktionieren nötig hat, wird ihm gewährt: Was er hören muss, wird gesagt, was er mutmaßlich nicht hören will, wird möglichst auch nicht zum Thema gemacht, was er für wahr hält, wird bestärkt, was er verurteilt, wird soweit möglich auch gescholten; nur was in ihm die Frage nach dem Sinn und den globalen Folgen seines industriellen Arbeitens aufwerfen könnte, kommt sicher nirgends vor. Schließlich wäre es ganz unprofessionell, derart zu "philosophieren"."

Karriere als Standardidentität

In der Industriegesellschaft, wo höhere Mächte seit Langem fehlen, geht es laut Andrick vorrangig darum, den Status der anderen zu bezeugen und wiederum in den Augen der anderen zu glänzen: Ehre, Ansehen, das zählt, darum ist Ehrgeiz, verstanden als Wille zum Beeindrucken durch Konformität, die Kerntugend der Funktionäre, egal, welches konkrete Verhalten gerade zu Ehre, Ansehen und Status führt. Zutreffende Vermutungen darüber anzustellen, was die anderen von einem selbst erwarten, um diese Erwartungen dann zu erfüllen, ist der Massensport unserer Zeit, weil wir nur so unseren Selbstwert bemessen. So zieht die Gesellschaft Energie vom Innenleben des Individuums ins Außen. Dieses Kapitel über "Die Ordnung des Ansehens" bewegt sich auf einem hohen Abstraktionslevel, das eingestreute Beispiele hätten ausgleichen können, um ein besseres Verständnis sowie höhere Leserfreundlichkeit zu erreichen.

 

Je nachdem, wie gut die Konformität gelingt, fällt die Karriere unterschiedlich lang und steil aus, bleibt aber immer insofern eine "Standardidentität", als sie eine prinzipiell von vielen Menschen wiederholbare Kopie darstellt. Eine Kopie, die jahrzehntelang volle Aufmerksamkeit erfordert und für die wir uns verbrauchen sollen - oder können - oder, wie man heute bei Zwängen und Zumutungen sagt: dürfen. Ohne Karriere oder zumindest Anstellung (eine ehrliche Bezeichnung für den Vorgang) keine Identität und auch sonst kaum Ressourcen. Ist der reihenweise Erfolg dann als Erlösung eingetreten, gleicht er "Sinnarmut und Monotonie" aus. Das ist jedenfalls der Plan. Für Andrick handelt es sich dabei um einen "zweifelhaften Götzen", eine "regelrechte Zwingburg" zur Ausrichtung unseres Denkens, Fühlens und Handelns auf die betrieblichen Zwecke.

 

Führungskräfte beherrschen die Kunst, die ihnen Untergebenen als Human Resource (menschliche Betriebsmittel) zu gebrauchen, sie, nach einer Formulierung von Gerald Hüther, vom Subjekt zum Objekt zu machen. Dazu muss die Führungskraft sich auf die Humanressourcen einlassen, um Kooperation im Sinne des Betriebszwecks sicherzustellen. Deshalb ist die Führungskraft selbst ein besonderes Betriebsmittel: Sie wird im geforderten Beziehungsmanagement als ganzer Mensch vernutzt. Von Mitarbeitern wird lediglich erwartet, dass sie das "Menschlichkeitstheater nicht durch unkoordiniertes Wahrheitsagen oder kritisches Nachfragen stören". Deshalb sollten wir im Betrieb niemandem so ganz über den Weg trauen. Professionalität eliminiert Eigensinn und Menschlichkeit zugunsten des Betriebszweckes. Das Arbeitsleben ist eine Bühne mit Schauspielpflicht, und diese Bühne dominiert unser Leben. Wer glaubt, hier mehr als zweckrationale Authentizität zu finden, ist ein skurriler Fremdling oder schlicht "unprofessionell".

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Die Ideologie der Konformisten: Moralischer Relativismus

Damit die lieben Leute an der manipulativen Zwangs-Inszenierung inmitten von Pappmasché nicht verzweifeln, benötigen sie eine spezielle verkorkste Philosophie, die Andrick "Moralischer Relativismus" nennt. Sie besagt, dass jeder stets auf seine Weise, aber nie in einem anderen Sinne recht hat. Andrick fertigt sie mit geübter Philosophenhand ab, denn die Argumente dagegen liegen längst vor (nur eben nicht in den philosophisch ungebildeten Köpfen der Menge). Vor allem wirft diese Haltung ein Problem der Selbstbezüglichkeit auf: Wenn es stimmt, dass jeder seine eigene, gleichberechtigte Wahrheit hat und es darüber hinaus keine universelle gibt, dann gilt das auch für diese Behauptung. Der moralische Relativismus ist dann nach sich selbst eben nichts weiter als relativ, ein respektabler, aber nur subjektiver Wirklichkeitsentwurf, den niemand akzeptieren muss, wenn er nicht will. 

 

"Diese Kapitulation des Nachdenkens ist verführerisch attraktiv. Denn nur wenn wir uns gegenseitig glaubhaft versichern, dass es keine moralischen Wahrheiten und damit auch keine fundamentalen Rechte des Menschen, also keine wirklichen Forderungen an uns gibt - nur dann können gewissenlose Karrieristen es legitim finden, ihre Mitmenschen nach Strich und Faden zu manipulieren. Nur wenn es keine Wahrheit gibt, ist jede Aussage perspektivisch legitim, also von einem bestimmten Standpunkt aus in Ordnung."

 

Hier fällt Andrick hinter Nietzsche zurück, ist also rund 150 Jahre zu spät angesichts aktueller philosophischer Debatten. Er glaubt, dass mit dem Wegfall objektiver moralischer Wahrheiten und mit der Anerkennung der Perspektivität allen Urteilens, mit der Anerkennung der Kontigenz unseres Denkens und Tuns, verstandesgeschützte Verhaltenswillkür nicht nur einziehen kann, sondern muss. Das gilt aber nur dann, wenn man die Subjektunabhängigkeit eines Urteils als Voraussetzung für seine Geltung begreift - nur wer Metaphysik braucht, wird sie bei Abwesenheit vermissen und das Chaos fürchten.

 

An die Stelle der Metaphysik hat Richard Rorty die Zukunft gesetzt: Lasst uns festlegen, in welcher Welt wir leben wollen, und dann lasst uns die Werte und Regeln bestimmen, die wir dafür brauchen, unabhängig davon, ob ein Philosoph meint, dass sie objektiv oder subjektiv sind. Wir sagen, dass alles kontingent ist, und stehen trotzdem für das ein, woran wir glauben. Sogar die Kontingenz-Idee selbst ist eben nichts weiter als eine kontingente Idee - aber wir empfehlen sie, weil wir denken, dass sie besser ist als die der Metaphysik. Besser inwiefern? Besser im Sinne unserer kontingenten Hoffnungen und Träume auf mehr Freiheit und weniger Grausamkeit. So kann man die Losung der philosophischen Schule des amerikanischen Neopragmatismus zusammenfassen, deren herausragendster Vertreter Richard Rorty war.

 

Der 2007 verstorbene Philosoph, den es wiederzuentdecken gilt, war kein Relativist, der die Gleichwertigkeit von allem proklamierte, aber auch kein Metaphysiker, der das, was er selbst wollte, mit den höheren Weihen des eigentlichen So-Seins der Dinge segnete. Aus der Standpunkt-Bedingtheit der Wahrheit ergibt sich noch lange nicht die Gleichwertigkeit aller Standpunkte und damit die Gleich-Gültigkeit aller Wahrheiten. Leben ist, wohlgemerkt nach diesem Standpunkt, zu einem guten Teil Kampf der kontingenten Perspektiven, in dem es Deutungshoheit zu erringen gilt. Natürlich stimmt aber Andricks Beobachtung, dass eine dumme, postmoderne Vulgär-Philosophie heute dazu genutzt wird, um sich alles zu erlauben. Rorty hingegen hebt genau auf die Folgen des eigenen Denkens und Tuns ab, um etwas moralisch zu bewerten. Andrick vermisst dies - zu Recht - bei den skrupellosen Relativisten.

 

Kurz darauf übrigens stellt Andrick klar, dass er seine Ausführungen, so sehr er sie auch für die Wahrheit hält, eben als seine Ausführungen versteht, die er besser oder anders nicht hinbekommt - na, so ganz verloren, wie ich zeitweise dachte, ist er für eine neopragmatistische Haltung doch nicht. "Kontingenz, Ironie und Solidarität", das zweite Hauptwerk von Rorty, passt maximal gut zu Andricks Impetus und könnte einige theoretische Schwächen beheben.

 

Am Ende des Buches findet sich zum Relativismus noch diese Passage: "Wer genug Nachdenklichkeit hat, um eine Ausrede zu suchen, summt dabei das tröstliche Lied vom Relativismus vor sich hin, dessen Refrain lautet: "Jeder hat seine eigene Wirklichkeit! Keiner hat Recht! Aber jeder hat eine Perspektive!" Das Ergebnis dieses Totentanzes war der moralische Bankrott unserer Ordnung in den Massenverbrechen der letzten Jahrhunderte und kann im nächsten Schritt der ökologische Ruin unseres Planeten sein."

 

Nein. Weder Relativismus, den ich auch verurteile, noch Perspektivismus waren und sind verantwortlich für Nationalsozialismus, Stalinismus und kapitalistische Umwelt- und damit Menschenzerstörung, sondern, wenn überhaupt, das exakte Gegenteil: Der feste Glaube, mit dem eigenen Tun einen absoluten, objektiven, von keiner menschlichen Perspektive abhängigen Auftrag zu verwirklichen. Der Zweck heiligt für Fundamentalisten jeder Art deshalb die Mittel, weil der Zweck in ihren Augen eben mehr ist als eine menschliche Setzung. Hitler hat ja genau nicht gesagt: "Ach, Millionen Juden ausrotten, das ist meine Wahrheit, meine Perspektive auf die Welt, habe ich mir im Knast ausgedacht, und meine Gegner haben halt eine andere, die gleichwertig ist, aber lasst uns das trotzdem mal machen."

Ein Wahnsinn namens Ehrgeiz

Zum Schluss, im schönsten und pointiertesten Kapitel des Buches, gibt Andrick noch einmal kräftig Gas. Sein Endgegner: der "pseudomoralische Wahnsinn" des Ehrgeizes, der eine "moralische Selbstaufgabe" bedeutet, aber suggeriert, genau das Gegenteil zu befördern, nämlich eine Weiterentwicklung der Persönlichkeit. So ist der Ehrgeizige "unfähig zur Gestaltung der Verhältnisse, aber optimal zu ihrem Betrieb geeignet", ein "Eiferer des Konformismus".

 

Die Gier nach Ehre ist die Gier nach der durch andere feierlich erteilten Auskunft, dass das eigene Denken und Tun mit ihren Wünschen übereinstimmt. Gesellschaftliche Ehrbekundungen erhalte ich, wenn ich die Plattitüden des gesunden Menschenverstands bestätige und in Handlung umsetze. Demgegenüber ist die Moral in Andricks Begriffssystem das eigene, von Lob und Tadel der Gesellschaft unabhängige Nachdenken über das Richtige und Wertvolle. Der Mut, so ist zu ergänzen, entscheidet im Falle erheblicher Dissidenz anschließend darüber, inwieweit man die Ergebnisse dieses Nachdenkens materialisiert.

 

"Die Industriegesellschaft hakt sich in unser Seelenleben ein. Sie macht sich den auf Ansehen und Status, auf die äußere Ehre zentrierten und deshalb außer sich umherblickenden Menschen durch seinen Ehrgeiz untertan. Unser Ehrgeiz ist das Geschirr, in das wir eingespannt werden und über dessen (mehr oder minder) gepolsterten Riemen wir dann den Karren des industriellen Betriebs ziehen. Die Athleten und Asketen dieser Konformierung, die sich voll Eifer und Entschlossenheit ins Joch werfen, sind die Ehrgeizigen. Ehrgeiz ist die Leittugend der Industriegesellschaft und auch (…) ihre charakteristische Form des Wahnsinns."

 

Die Selbstdisziplinierung des Ehrgeizigen ist es laut Andrick auch, die ihn abseits der Arbeitswelt in sinnliche und andere Maßlosigkeiten driften lässt. Andrick scheint nahelegen zu wollen, dass Ausschweifungen jeder Art nur eine traurige, kranke Ausgleichsreaktion auf die traurige, kranke Existenz des ehrgeizigen Konformisten darstellen. An dieser Stelle schleicht sich ein verkniffener Protestantismus in Andricks Denken, dessen antihedonistische, den Wert von Grenzüberschreitungen verkennende Mäkeleien, die sich offiziell als Aufruf zum ständigen "Maßhalten" bemänteln, glücklicherweise nicht entscheidend sind für die sehr notwendige Stoßrichtung des Buches. Natürlich sollten wir beherrschtes, beharrliches, ernstes Vorantreiben von Plänen nicht auf die Arbeit beschränken und natürlich ist eine in den mittleren Ebenen des emotionalen Spektrums verbrachte Freizeit schön. Sie aber vollständig damit auszufüllen, ist für die Rauschbegabteren unter uns eine Fessel vertrockneter Bürgerlichkeit.

 

Folgerichtig ist es allerdings, dass Andrick altlinke Konsumkritik entstaubt, indem er im ausdifferenzierten Konsum ausschließlich - und diese Ausschließlichkeit ist mein Kritikpunkt am Autor - ein Symptom der Manipulation des Ehrgeizigen sieht. Ach ja, die böse Waren-Glitzerwelt, davon halten sich wahrhaft distinguierte und soignierte geisteswissenschaftliche Durchblicker natürlich fern, und Marken, verstanden als immaterielle Kaufgründe für ein Produkt, sind per se Allotria, nur um Nutzwert soll es bei Produkten gehen, alles andere ist psychischer Untergang, und wer etwas Anderes will, ist ein Betrüger. Hier wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, und das war auch schon meine Meinung, bevor ich, soviel Transparenz muss sein, selbst in die Branche Werbung/Kommunikation eingestiegen bin.

Fazit: Ungewöhnlich und höchst lesenswert

Ganz zum Schluss schlägt Andrick versöhnlichere Töne an, das große Gewitter ist verzogen. Ja, es gibt dann wohl doch - manchmal, selten, instabil (seid auf der Hut!) - Zusammenhänge, in denen man arbeiten kann, weil man die Ziele nach selbstständiger, ehrgeizfreier Reflexion schon irgendwie für gut befindet.

 

Andricks Werbung "Philosophie für die Arbeitswelt" liest sich in weiten Teilen als Philosophie gegen die Arbeitswelt oder zumindest trotz der Arbeitswelt. Das ist aber zu kurz gedacht. Wir haben es vielmehr mit einem engagierten Philosophen zu tun, der das Eigene gegen die Übergriffigkeit des Fremden verteidigen will, und zwar um des Eigenen wie des Fremden willen: Denn nur solange es Eigenes gibt, hat das Fremde, das heißt die Gesellschaft als Konglomerat der anderen Menschen mit ihren zum Teil rigiden Anpassungsvorgaben, eine Chance auf Veränderung, die manchmal ja ein Fortschritt ist. Stirbt das Eigene aus, erstarrt das Fremde zum Unglück aller.

 

Der Konformismus, muss man ergänzen, ist sicherlich nicht die einzige Ursache für das mit dem eigenen Handeln hervorgerufene Elend der Welt. Mindestens so wichtig wird die unüberblickbare Komplexität der Verstrickungen sein, die auch das beste Nachdenken nicht gepackt kriegt und denen auch das verantwortungsvollste, widerständigste Tun nicht entkommt. Nach dem halbwegs gelungenen Durchdringen des Verblendungszusammenhangs haben wir einen ungefähren Blick auf den Schädigungszusammenhang, ohne ihn immer zerhauen zu können. Man kann nicht auf alle einströmenden Informationen mit Handeln reagieren und jede Reaktion produziert vermutlich neues, ungewolltes Leid.

 

Michael Andrick hat die gehirndurchpustende Wirkung von Philosophie nah an der Praxis und Alltagserfahrung bewiesen, und er hat dies für ein erstrebenswertes Ziel getan. Über die Rückfälle in ein Vokabular, das Unterscheidungen wie Wirklichkeit/Erscheinung ernstnimmt oder kleinkariert gegen das Marketing wettert, kann ich deshalb als metatheoretische Lappalie hinwegsehen. Ich wünsche dem Buch eine breite Rezeption in der Bevölkerung. Dem ersten souveränen Unternehmen, das jedem Mitarbeiter ein Exemplar schenkt, werde ich hier ein kleines Denkmal setzen.

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